Decolonize Trade – Die westliche Doppelmoral aufbrechen

v.l.n.r.: Fiona Faye, Aram Ziai, Gifty Amo Antwi, Aileen Puhlmann, Daphne Ivana Sagner I Foto: Lukas Tödte

Am 9. April 2025 hatte die Fair Trade Stadt Hamburg in den W3-Saal eingeladen, um über mögliche Schritte zur Dekolonisierung des Welthandels zu sprechen. Die Veranstaltung im Rahmen der Reihe „Hamburg. handelt. dekolonial?“ sollte die bestehenden Missstände innerhalb der Handelsbeziehungen zwischen dem sogenannten Globalen Süden und Globalen Norden aufzeigen und diskutieren, wie die bestehenden Macht- und Ausbeutungsverhältnisse aufgebrochen werden könnten. Dazu hatten wir vier Gesprächspartner:innen eingeladen, die aus ihren jeweiligen Arbeits- und Aktivismusgebieten wichtige Perspektiven in die Diskussion einbringen konnten:

Fiona Faye ist Doktorandin und Aktivistin, die zum Thema Handels- und weiterer Wirtschaftspolitik aus postkolonialer Perspektive forscht und derzeit zur Rolle dieses Politikbereichs im Projekt der Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln im Burkina Faso der 80er Jahre unter der Präsidentschaft von Thomas Sankara promoviert. Zudem ist sie beim Online-Archiv thomassankara.net und beim transnationalen Netzwerk afrique-europe-interact aktiv.

Aram Ziai ist Professor der Politikwissenschaft und leitet das Fachgebiet Entwicklungspolitik und Postkoloniale Studien an der Universität Kassel sowie das Global Partnership Network, ein vom BMZ gefördertes Zentrum für Hochschulexzellenz in der Entwicklungszusammenarbeit. Seine Schwerpunkte liegen dabei in den Bereichen der Entwicklungstheorie und -politik aus der Perspektive postkolonialer und der Post-Development-Ansätze und im Bereich der Global Economic Governance. Zudem ist er u.a. in der Bundeskoordination Internationalismus (BUKO) und bei „kassel postkolonial“ aktiv.

Gifty Rosetta Amo Antwi ist Ethnologin und seit 2024 Geschäftsführerin beim Dachverband der Weltläden in Deutschland. Sie besitzt langjährige Erfahrung im Bereich des Fairen Handels sowie im Einsatz gegen Diskriminierung, u.a. als Geschäftsführerin des Mainzer Weltladens und als Mitarbeiterin im Flüchtlingsrat Rheinland-Pfalz, und ist zudem als Bildungsreferentin aktiv. Sie ist Mitbegründerin des antirassistischen Bildungsformats „Kartoffelpuffer“.

Aileen Puhlmann ist Vorständin bei Lemonaid & Charitea e.V. Zuvor war sie in Südafrika für die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) tätig. Sie schreibt und hält Vorträge zu Themen der sozialen Gerechtigkeit und des Antirassismus und ist interessiert an Entwicklungsdiskursen und der Implementierung neuer Ansätze im Feld sozialer Gerechtigkeit aus machtkritischer Perspektive. Zudem ist sie Gründerin von „Community Kids“, einer Initiative für Schwarze Eltern und ihre Kinder in Hamburg, und im Beirat „Dekolonisierung der Stadt Hamburg“ aktiv.

Aram Ziai und Fiona Faye: Wirtschaftspolitik neu denken

Fiona Faye I Foto: Lukas Tödte

Unserer Einladung folgten knapp 70 Interessierte und Aktive im Bereich der Dekolonisierung und der (Fairen) Handelspolitik. Nach einer kurzen Begrüßung durch Lukas Tödte von der Fair Trade Stadt Hamburg begann die Veranstaltung zunächst mit einer Präsentation durch Fiona Faye und Aram Ziai zur Vorstellung ihrer aktuellen Publikation „Wirtschaftspolitik neu denken: Schritte zur Dekolonisierung“. In dieser beschäftigen sich die beiden Wissenschaftler:innen mit der Notwendigkeit einer dekolonialen Wirtschaftspolitik und der Frage nach der Gestaltung einer solchen dekolonialen Wirtschaftspolitik in einer kapitalistischen Welt. Dabei kam zunächst die Notwendigkeit historischer Gerechtigkeit für die Bereicherung Europas und des gesamten Globalen Nordens auf Kosten des Globalen Südens zur Sprache, welcher sich z.B. durch Landrückgaben, Reparationszahlungen für Versklavung und Kolonialismus sowie die Leistung von Klimareparationen angenähert werden müsste. Darüber leitete Aram Ziai zur Frage über, wie es um die postkoloniale Gerechtigkeit der Gegenwart bestellt ist, welche anhand der Geldströme aus dem Globalen Süden in den Norden und umgekehrt verdeutlicht werden kann. Dabei liegt die finanzielle Hauptlast nachweislich im Globalen Süden, der durch ungleiche Handelsbeziehungen, Steuerhinterziehung bzw. illegale Finanzströme seitens des Globalen Nordens, Schuldendienste sowie die Gewinnrückführung multinationaler Unternehmen ein Vielfaches mehr an Geldern an den Globalen Norden zahlt, als dieser durch ausländische Direktinvestitionen und sogenannte Entwicklungszusammenarbeit in den Globalen Süden transferiert. Zudem fließen zwar streng genommen auch migrantische Rücküberweisungen aus dem Globalen Norden in den Globalen Süden, diese jedoch stammen häufig selbst von Menschen aus dem Globalen Süden, die Verwandte und Bekannte zurück in ihren Herkunftsländern unterstützen, während sie im Globalen Norden leben und arbeiten. Insgesamt wird vor allem am Aspekt der ungleichen Tauschbeziehungen deutlich, wie stark die globale Arbeitsteilung auch heute noch ausgerichtet ist auf die Bedürfnisse der ehemaligen Kolonialmächte im Globalen Norden und wie sehr die vorherrschende Neoliberalismus-Ideologie in der Wissensproduktion sowie innerhalb internationaler Institutionen den Globalen Süden weiterhin in Abhängigkeiten und zum Abflachen eigener Ansprüche zugunsten der Wettbewerbsfähigkeit drängt.

Aram Ziai I Foto: Lukas Tödte

Zur Lösung der angesprochenen Missstände betonen Fiona Faye und Aram Ziai, dass grundlegende strukturelle Transformationen globaler Wirtschaftsbeziehungen nötig sind, welche nicht durch einmalige Reparationszahlungen, sogenannte Entwicklungszusammenarbeit oder das Verstellen einzelner Drehschrauben innerhalb bilateraler Handelsverträge geleistet werden können. Der Globale Norden müsste seine eigene Doppelmoral hinterfragen, welche nicht nur das Verständnis und die Implementierung von Menschenrechten angeht, die häufig für sich selbst reklamiert und auch vergleichend zum Globalen Süden als Argument für die eigene moralische Überlegenheit angeführt werden. Westliche Doppelmoral bezieht sich auch auf die eigene Handelspolitik, deren Geschichte häufig bewusst verfälscht dargestellt wird und die auch durch ein Abschneiden des Weges gekennzeichnet war und ist, den man selbst zuvor im Zuge der eigenen Industrialisierung eingeschlagen hat. Zum Abschluss der Präsentation führten Fiona Faye und Aram Ziai noch einmal die angesprochenen Schritte zu strukturellem Wandel anhand konkreter Handlungsempfehlungen aus, wie z.B. dem Stoppen unfairer und neokolonialer Freihandelsabkommen, der Dekolonisierung der Volkswirtschaftslehre oder der Schaffung neuer globaler Handelsregelwerke mit Blick auf kosmopolitische Werte statt die Verfolgung nationaler Interessen.

Die Podiumsdiskussion

Gifty Amo Antwi I Foto: Lukas Tödte

Für die anschließende Diskussion wurde das Panel auf der Bühne durch Aileen Puhlmann und Gifty Amo Antwi ergänzt, während Daphne Ivana Sagner (Moderatorin, Content Creatorin und Aktivistin im Bereich Antirassismus) durch das Gespräch führte. Dabei konnte auch die Praxisebene internationaler Handelsbeziehungen unter den aktuellen (post-)kolonialen Bedingungen noch einmal näher beleuchtet werden. Zur Sprache kam z.B. das häufig noch immer fehlende Grundverständnis für die Preisgestaltung fair gehandelter Produkte, wobei bspw. Produzent:innen auch im Falle von Missernten und erschwerten klimatischen Bedingungen für ihre Arbeit bezahlt werden, was wiederum den Preis bestimmter Rohstoffe wie Rooibos-Tee in bestimmten Zeitspannen ansteigen lässt. Aileen Puhlmann betonte dabei, dass Konsument:innen demnach nicht nur grundsätzlich fairere Kaufentscheidungen treffen, sondern auch ein grundlegenderes Verständnis für die Prozesse des Fairen Handels und der notwendigen Dekolonisierung konventioneller Handelsbeziehungen entwickeln müssten.

Aileen Puhlmann I Foto: Lukas Tödte

Gleichzeitig betonten alle Redner:innen jedoch auch und vor allem die Notwendigkeit struktureller Veränderungen, die nicht allein durch individuelle Kaufentscheidungen seitens der Konsument:innen erwirkt werden können. Dazu zählt z.B. die Unterstützung eines größeren Anteils der Produktion im Globalen Süden statt der bloßen Extraktion begehrter Rohstoffe wie Kakaobohnen zur Weiterverarbeitung im Globalen Norden, womit der weitaus größte Gewinnanteil generiert wird. Einige solcher Projekte zeigen bereits nachhaltig Wirkung, wobei Gifty Amo Antwi dennoch betonte, dass auch hier eine anhaltende Reflexion und Nachjustierung auf Seiten der Vertreter:innen des Globalen Nordens nötig sei, um Parter:innen im Globalen Süden nicht erneut in Abhängigkeiten zu drängen und das weiterhin bestehende (post-)koloniale Wissen über sie nicht versehentlich zu reproduzieren, statt ihm entgegenzuwirken. Zudem könne die bloße Förderung unternehmerischer Aktivitäten im Globalen Süden nach weiterhin kapitalistischen Standards laut Aram Ziai und Fiona Faye nur bedingt ein Teil der Lösung sein, wenn dabei die grundlegenden Wirtschaftslogiken nicht hinterfragt und durchbrochen werden.

Daphne Ivana Sagner I Foto: Lukas Tödte

Auf die Notwendigkeit, das eigene Welt- und Selbstbild sowie die eigene Perspektive auf die globalen Machtbeziehungen zu reflektieren, bezog sich anschließend aber auch der Hinweis, dass es vor allem die Aufgabe weißer Menschen im Globalen Norden sein muss, die eigenen Privilegien nicht nur anzuerkennen, sondern auch aktiv abzugeben. Darin reihte sich auch der Appell an vor allem weiße Menschen im Publikum ein, als Multiplikator:innen dieser Gespräche zu dienen und sich auch im eigenen Umfeld für Dekolonisierung und globale Fairness einzusetzen und mehr Verständnis für aktuelle Machtasymmetrien zu schaffen. Zum Abschluss der Gesprächsrunde betonte Aram Ziai in Bezug darauf auch noch einmal den Erfolg vergangener zivilgesellschaftlicher Bewegungen, die letztlich alle heute als selbstverständlich geltenden Rechte erkämpft haben, und daher auch angesichts großer gesellschaftlicher Unsicherheiten und des Erstarkens rechtsextremer Ideologien, welche ebendiese Rechte auch teilweise wieder in Frage stellen, nicht die Hoffnung auf und den Kampf für positiven gesellschaftlichen Wandel aufzugeben.

Foto: Ina Gröbe

Nach der anschließenden Möglichkeit auch für das anwesende Publikum, dem Panel noch eigene Fragen zu stellen, beendeten wir die Veranstaltung gegen 21 Uhr. Wir bedanken uns noch einmal herzlich bei unseren Gäst:innen Fiona Faye, Aram Ziai, Gifty Amo Antwi und Aileen Puhlmann für die wichtigen Einblicke in ihre verschiedenen Forschungs-, Arbeits- und Aktivismusbereiche sowie bei Daphne Ivana Sagner für die dynamische Moderation und bei allen Anwesenden im Publikum für ihr zahlreiches Interesse an unserer Auftaktveranstaltung der Reihe „Hamburg. handelt. dekolonial?“. Wir hoffen, viele der Anwesenden auch auf unseren zukünftigen Veranstaltungen wieder begrüßen zu dürfen.

Das gesamte Podiumsgespräch gibt es hier auch noch mal zum Nachschauen.

Die Veranstaltungsreihe Hamburg. handelt. dekolonial? wird ermöglicht durch die finanzielle Unterstützung von Brot für die Welt, des Katholischen Fonds‘, des Kirchlichen Entwicklungsdienstes der Nordkirche und der Norddeutschen Stiftung für Umwelt und Entwicklung.